Aber Marketing und Marktforschung können doch durchaus von den Neurowissenschaften und ihren modernen Methoden, etwa den bildgebenden Verfahren, profitieren.
Sicher. Die Psychologie hat in den letzten 20 Jahren große Fortschritte gemacht. Von diesem Zuwachs an Wissen über unser Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Verhalten profitiert natürlich auch die Konsumenten- und Werbepsychologie und als Folge davon Marketing und Marktforschung. Das ist der wichtigste Beitrag der Gehirnforschung für das Marketing, den man gar nicht genug würdigen kann. Originäre Neuromarketing-Studien haben dabei einen gewissen Anteil, aber noch nicht einmal den größten. Deshalb empfehle ich vielen Marketingleuten die Lektüre der Fachbücher der großen Neuroforscher, bevor sie zu irgendwelchen Neuromarketing-Titeln greifen. Die teilweise brillant geschriebenen Werke von Antonio Damasio, Eric Kandel, Gerhard Roth, Wolf Singer oder Ernst Pöppel sind wesentlich erhellender als die meisten Marketing-Traktate, bei denen „Neuro“ oder „Gehirn“ auf dem Cover steht.

Viele der neuen psychologischen Erkenntnisse kommen ja aus ganz anderen Forschungsrichtungen als den Neurowissenschaften ...
Ja, zum Beispiel aus der evolutionären Psychologie, der experimentellen Ökonomie, aus soziologischen Netzwerkanalysen, Identitäts- und Selbstkonzeptforschung, Sozialpsychologie, Physiologie, Arbeits- und Organisationspsychologie. Auch hier sei auf einige Originalautoren hingewiesen: Etwa Ariel und Gigerenzer, die sich mit Heuristiken bei der Entscheidungsfindung beschäftigen; oder Csikszentmihalyis Bücher über Flow und Kreativität.

Welchen Beitrag kann Ihrer Meinung nach das Neuromarketing leisten, um Mediaplanung, insbesondere TV, konkret zu optimieren?
Unser Zuwachs an psychologischem Wissen kann natürlich auch die TV-Planung verbessern, aber einen spezifischen herausragenden Beitrag des Neuromarketings kann ich noch nicht erkennen. Eine Berücksichtigung der emotionalen Rezeptionsverfassung bei der Zeitzonen- und Umfeldplanung halte ich für sinnvoll, auch wenn wir hier eher ein Patchwork von Theoriebausteinen und Befunden haben, als ein wirklich umfassendes und getestetes Modell. Dabei sind Erkenntnisse aus Kommunikationswissenschaft, Sozial- und Emotionspsychologie relevant, aber auch aus der physiologischen Erforschung der menschlichen Biorhythmen und soziologische Befunde zu Ritualen und Verhaltensmustern im Alltag. Neurowissenschaftliche Methoden sind immer an extrem künstliche Laborsituationen gebunden, in denen wir unseren Alltag kaum simulieren können. Normalerweise schauen wir eben auf dem Sofa fern und nicht in der Tomografen-Röhre.

Bietet Universal McCann für seine Kunden denn die TV-Planung und -Optimierung nach Neuromarketingerkenntnissen an?
Wir berücksichtigen für einige unserer Kunden das emotionale Rezeptionserleben der Zielgruppe, um die Zeitschienen mit den höchsten Wirkungschancen zu identifizieren. Dabei greifen wir auf Primärdaten aus unserer Tagebuch-Studie „Media in Mind“ zurück, in der wir auch Stimmungen und Aufmerksamkeits-Levels bei der Mediennutzung erheben. Viele Konzepte aus der Neuro-Ecke sind eher für die Kreation von TV-Spots relevant. Ein ungenutztes Optimierungspotenzial liegt meiner Ansicht nach noch darin, TV-Spots auf das wechselnde Rezeptionsempfinden im Tagesverlauf auszurichten – oft reichen nur kleine Veränderungen bei Ton und Schnitt, um einen Spot an unterschiedliche Aufmerksamkeits-Levels anzupassen. Das Belohnungs-Modell von Scheier und Held geht ja auch davon aus, dass die dominanten Belohnungsfelder von Situation zu Situation wechseln. Da gibt es durchaus spannende Berührungspunkte mit unserem Ansatz.

Welche Auswirkungen hat ein Ansatz, der auf das „implizite Lernen“ baut, auf die bisherigen Ansätze von Werbewirkungsforschung? Die gerichtete Aufmerksamkeit war und ist ja gerade angesichts einer gigantischen Anzahl an täglichen Werbebotschaften ein zentraler Wirkhebel für werbliche Kommunikation. Und: Was passiert, wenn letztlich täglich Hunderte Werbebotschaften die Kriterien impliziten Lernens erfüllen?
Die Wiederentdeckung des impliziten Lernens ist durchaus eine wichtige Errungenschaft der psychologischen Forschung. Doch manchmal wird zu stark darauf fokussiert und somit das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Richtig ist: Viele Kaufentscheidungsprozesse laufen unbewusst ab. Gerne wird aber die Aussage zitiert: 95 Prozent unserer Kaufentscheidungen sind unbewusst, also im Grunde fast alle. Diese 95 Prozent sind eine Zahl, für die ich noch keinen wissenschaftlichen Beleg gesehen habe und die mir viel zu hoch vorkommt. Tatsächlich ist jede Kaufentscheidung eine Mischung aus bewussten und unbewussten Komponenten, und die bewussten Anteile sollten man dabei nicht unterschätzen.

Vielleicht liegt es daran, dass man bei impliziten Prozessen keine wirklichen Vorstellungen hat, was das überhaupt bedeutet.
Ja, wir denken da an Unterbewusstsein, versteckte Emotionen, Reptiliengehirne und Archetypen – ein vager Mischmasch aus Psychoanalyse, Evolutionstheorie, Motivationspsychologie und Hirnforschung, bei dem alltagssprachliche und wissenschaftliche Begriffe bunt zusammengewürfelt werden. Dabei kann man das mit sozialpsychologischen Konzepten auch präziser fassen: Der Autopilot trifft Entscheidungen nach mehr oder minder unbewussten Heuristiken. Eine der wichtigsten davon hat Gerd Gigerenzer so beschrieben: Ein guter Grund genügt! Damit hat er eine psychologische Bestätigung des klassischen USP-Konzeptes geliefert. Dieser gute Grund kann durchaus ein vernünftiger und bewusst wahrgenommener sein. Der Autopilot reagiert auch auf Rationales. Aber selbst bei den Entscheidungen, die nicht-rational gefällt werden, benötigen wir im Nachhinein eine rationalisierende Begründung unseres Tuns.

Bitte konkretisieren Sie das!
Die Kaufentscheidung, und sei sie noch so unvernünftig, muss vor uns selbst – unserem vernünftigen Ich – gerechtfertigt werden. Da tut ein Werbungtreibender gut daran, hier dem Konsumenten die richtigen Argumente beizubringen. Erst recht wichtig wird das, wenn man seine Konsumwahl vor Familie und Freunden rechtfertigen muss. Um es zusammenzufassen: Egal, wie unsere Entscheidung getroffen wird – wir benötigen Informationen, die wir bewusst verstehen, lernen und wiederholen müssen. Das geht oft eben nur mit einem ausreichenden Aufmerksamkeits-Level.

Die Nachweisbarkeit von Werbewirkung, die Steigerung des Return-on-Investment durch werbliche Kommunikation, ist eines der zentralen Anliegen mediastrategischer Kampagnenoptimierung. Läuft man hier bei der Neuro-TV-Planung nicht Gefahr, auf einer wenig nachvollziehbaren Ebene zu argumentieren?
Hier wird ein wichtiger Aspekt angesprochen: Trotz allem Fortschritt in der psychologischen Forschung werden interessante Konzepte der Kontaktqualität nur vereinzelt in der TV-Planung eingesetzt – das gilt übrigens selbst für fortschrittliche Länder wie USA, Japan oder England. Große TV-Etats werden in der Regel von externen Auditoren überprüft – die TV-Planung richtet sich dann nach der Logik und den Erfolgskriterien dieser Auditer, die sich an Quantitäten und Einkaufsergebnissen orientieren. Zu diesen Mechanismen passen innovative Ideen zur Kontaktqualität meist leider noch nicht.

Wie können die Belohnungsprofile von Sendern, Programmumfeldern und Marken wissenschaftlich definiert werden? Welche Methoden kommen hier zum Einsatz?
Die gängige Messung von Belohnungsprofilen, wie sie etwa die Firma decode von Scheier und Held verwenden, hat nichts mit den Methoden der Hirnforschung zu tun. Sie arbeiten vielmehr mit Verfahren, bei denen die Versuchspersonen Bilder und Begriffe zu Marken oder Sendungen zuordnen – aus der Messung ihrer Reaktionszeit werden dann Schlussfolgerungen über die Belohnungswirkung dieser Marken oder Sendungen getroffen. Das ist ein durchaus schlüssiges, pragmatisches und interessantes Verfahren. Allerdings ist die Interpretation nicht ganz leicht – ein Problem, das übrigens viele andere projektive und implizite Verfahren der Marktforschung ebenfalls haben. Noch gibt es keine bildgebenden Verfahren, die verlässlich und kostengünstig den Marktforschern den Blick ins Gehirn der Konsumenten erlauben. Hier werden zwar Fortschritte gemacht (etwa die „Badekappen“, die an der Kopfhaut elektrische Messungen durchführen), doch ist man noch immer von einem wirklich umfassenden Einsatz in der Praxis entfernt.

Neuromarketingexperten wie Christian Scheier sprechen von einem notwendigen „Fit“ zwischen Sender/Programm und Marke, sprich: Die „Belohnungssysteme“ müssen einander entsprechen. Muss das generell stimmen? Oder sind Konstellationen denkbar, bei denen gerade ein Bruch zwischen den Belohnungsprofilen zielführend sein kann?
Der „Fit“ von Umfeld und Marke ist ein altes Thema in der Werbewirkungsforschung. Tatsächlich haben die meisten Studien nur geringe Umfeldeffekte ermitteln können. Trotzdem kann es lohnend sein, sich mit einer Umfeldaussteuerung zu beschäftigen, um die Wirkungschancen zu optimieren – denn kleine Stellschrauben können vielleicht schon einen Unterschied machen. Scheiers Ansatz ist plausibel und innerhalb der Logik seines Modells der Belohnungsfelder ist es auch sinnvoll, hier einen Fit von Marke und Umfeld zu suchen. Die Idee, bewusst einen Bruch zwischen den Belohnungsprofilen zu suchen, kann ich nicht nachvollziehen. Das könnte schlimmstenfalls zu Dissonanzen führen. Grundsätzlich muss man aber überlegen, ob die Messung von Belohnungsprofilen von Sendungen wirklich ausreicht. Christian Scheier und Dirk Held sagen in ihren Büchern, dass die Belohnungserwartungen durchaus von Situation zu Situation wechseln können. Vielleicht wäre eine Aussteuerung nach Tageszeiten und Situationsbedingungen – alleine oder mit mehreren vor dem Bildschirm, konzentriert oder mit anderen Handlungen abgelenkt, müde oder wach etc. – zielführender.