Herr Croseck, warum sammeln Menschen so gern?

Das ist ein archaisches Grundprinzip, das tief in uns steckt. Außerdem ist der Mensch unglaublich empfänglich für ein Dankeschön. Wenn der Lebensmittelhändler sich so für den treuen Einkauf bedankt, ist das vielleicht altmodisch, aber es funktioniert nach wie vor.

War ja klar, dass Sie das sagen.

Es gibt Beweise. Wir haben gemeinsam mit dem Marktforschungsinstitut Rheingold in zwei Studien untersucht, ob dieses uralte Thema „Treue belohnen“ überhaupt noch zeitgemäß ist. Die Verbraucher haben uns klar und deutlich gesagt, dass sie das super finden. Aber wir haben mehrere Felder identifiziert, an denen wir arbeiten müssen.

Als da wären?

Es geht nicht mehr darum, zu sagen: Hier bekommt man eine Prämie mit einem Rabatt von 70 Prozent oder es gibt die Prämie idealerweise gratis. Die Prämie wird mehr und mehr Mittel zum Zweck. Mal ehrlich, kein Kunde braucht doch einen weiteren Topf oder noch ein Besteck. Das Thema muss in eine ansprechende Marketingwelt verpackt werden, die für den Käufer eine Bedeutung hat. Wir sprechen von „aktivierenden Lebenswelten“.

Ein Beispiel, bitte …

Stephan Grünewald von Rheingold hat das anhand des Kaufs einer Flasche Rotwein verdeutlicht. Wenn ein Konsument vor dem Regal steht und nach einer Flasche Rotwein greift, dann kauft er nicht den Wein oder den Alkohol, sondern den Moment, den er sich vorstellt, in dem er den Rotwein genießen wird – vielleicht gemeinsam mit seiner Partnerin auf seiner Terrasse. Diese Welt muss man mit verkaufen. Kein Mensch braucht zusätzliches Geschirr. Aber wenn wir einen schön gedeckten Tisch in einem Garten unter einem Kastanienbaum mit netten Menschen zeigen, dann will der Kunde dieses Teil davon haben.

Also emotionale Inszenierung am PoS.

Ja. Aber das allein reicht nicht. Der zweite wichtige Punkt ist die Dramaturgie. Es ist ja kein Mensch mehr in der Lage, eine halbe Stunde lang nicht auf sein Smartphone zu schauen. Man hört einander nicht mehr zu. Die Konzentrationsfähigkeit hat stark abgenommen. Aber wir erwarten, dass die Konsumenten über Wochen hinweg bei unseren Themen bleiben. Deshalb müssen wir in unsere Kampagnenmechanik Zwischenhighlights einbauen, also Anreize, dabeizubleiben. Wir müssen den Spannungsbogen aufrechterhalten.

Das heißt, Ihre Themen müssen für den Kunden im Markt über einen langen Zeitraum hinweg relevant sein.

Genau und deshalb ist auch der dritte Punkt so wichtig: Vergemeinschaftung. Der Konsument möchte nur an etwas teilnehmen, was in allen für ihn relevanten Gemeinschaften eine Rolle spielt. Er möchte sich nicht als Exot outen. Familie oder Nachbarn müssen auch ein Interesse daran haben können. Wichtig ist auch eine Vergemeinschaftung zwischen Kunde und dem Personal im Laden. Der Konsument will spüren, dass die Kassiererin auf die Aktion stolz ist. In der Rheingold-Studie berichtete eine Kundin, dass zu Beginn einer Treuekampagne der Marktleiter selbst seine Kunden darauf aufmerksam machte. Aber im Lauf der Zeit wanderte das Display in den hinteren Teil des Ladens neben den Leergutautomaten. Mit Belohnung hat das nichts mehr zu tun.

Da geht es dann tatsächlich um Kundenpflege.

Ja, und damit kommen wir zum vierten wichtigen Punkt. Das ist das Thema Selbsterhöhung. Menschen lieben es, sich als VIP zu fühlen. Sie wollen spüren, etwas Besonderes zu sein. Nach dem Motto: Nur ich bin in der Lage, in diesem Zeitrahmen 450 Euro bei zum Beispiel Real auszugeben, um eine Prämie gratis zu bekommen, und du nicht! Sie wollen Treue-Inseln, wo sie ihre Prämien finden, auf die andere Kunden neidisch blicken. In Asien gibt es seit Jahren eine Kampagne mit einer Kaffeehauskette. Wenn dort jemand eine Prämie einlöst, geht eine Sirene los, und dann wird mit viel Brimborium die Prämie über­geben. Das ist für den hiesigen Geschmack übertrieben, aber vom Prinzip her gilt das auch in Deutschland.

Wenn der Kunde so anspruchsvoll ist, heißt das, Sie müssen für jeden Händler unterschiedliche Kampagnen austüfteln?

Der Konsument erwartet eine harmonische Einpassung in die Gesamtkommunikation des Händlers. Unsere Aufgabenstellung ist es also, maßgeschneiderte Kampagnen für Händler zu entwerfen. Noch tut sich mancher Händler aber manchmal schwer damit, uns in seine Strategieplanung zu involvieren. Wir haben deshalb einen Umweg genommen. Wir haben die Konsumenten befragt, wie sie die Marken des Handels sehen. So ist die Einkaufsverfassungsstudie entstanden. 

Sie meinen die jeweilige Verfassung des Konsumenten, während er einkauft?

Viele Marketer denken immer noch sehr stark in Zielgruppen. Zusätzlich ist es aber wichtig, die jeweilige momentane Einkaufsverfassung des Shoppers zu verstehen, warum er sich für welchen Händler entscheidet. Man ist nicht immer gleich empfänglich für Botschaften. Kommunikation kann bei einem Empfänger an einem Tag funktionieren und am anderen Tag nicht. So ist es auch beim Einkaufen. Die Frage ist doch: Wann und vor allem warum kauft derselbe Shopper bei Aldi oder bei Edeka ein? Denn er kauft bei beiden ein. Die Antwort liegt in seiner jeweiligen Einkaufsverfassung. Dazu gibt es vier Grunddimensionen: Sinnlichkeit, Einfachheit, Geiz und Gier sowie Achtsamkeit, also das moralische Einkaufen.

Was hat Einkaufen mit Moral zu tun?

Der Kunde versteht Einkaufen als Gesinnungsstatement. Bei diesen entsprechenden Händlern vertraut der Shopper darauf, dass sich die Marke um Umweltschutz und Fairness kümmert. Dazu kommt immer stärker das Thema Regionalität und artgerechte Tierhaltung. Zu diesen Themen gibt es den Gegenpol: Alles meins, Geiz und Gier. Da will der Kunde einfach nur einen guten Deal machen. Hier geht es darum, Vorrat zu schaffen. Volumen und große Packungen sind wichtig. Es gibt auf diesem Feld außerdem extrem viele Spontankäufe. Als Belohnung sind Trost und Heißhunger ein Thema, weil viele Menschen hier einkaufen, wenn sie frustriert sind.

Und was hat es mit der Einfachheit auf sich?

Hier geht es um Basisversorgung. Der Begriff Discount ist ein Relikt aus Industrie- und Handelszeiten der vergangenen 50 Jahre. Mittlerweile ist der Discounter zum modernen Nahversorger geworden. Da zählen Nähe, Einfachheit und Entspannung. Das sind Einkaufsstätten, wo Menschen den Pflichteinkauf erledigen: Milch, Butter, Zucker, Mehl; das, was den Einkauf so stupide macht. Ich stehe an der Kasse, zahle meine Milch und weiß, in ein paar Tagen stehe ich wieder hier und zahle wieder meine Milch. Man will nicht viel Zeit darauf verwenden, Artikel zu suchen. Das ist ein Einkauf, der sehr stark in Routineabläufe inte­griert wird: auf dem Weg zur Arbeit oder von der Arbeit nach Hause. Das ist selten der Wochenendeinkauf. Der Käufer will nicht abgelenkt oder angesprochen werden, an der Kasse soll es schnell gehen. Reine Routine.

Also das Gegenteil von dem Begriff „Sinnlichkeit“, den Sie eben auch verwendet haben.

Ja, denn dabei geht es um Status und Inspiration. Hier ist Einkauf ein Erlebnis. Preiswahrnehmung funktioniert hier nicht im Sinne von Sensibilität, sondern von Statusdenken. Man bringt Zeit mit. Einkaufen ist nicht Pflicht, sondern Kür. Man will inspiriert und beraten werden, kosten, Rezeptideen erhalten, Dinge erleben, die zu Hause Abwechslung versprechen. Vielfalt und Auswahl sind enorm wichtig. Ebenso das Ambiente. Es gibt eine Einkaufsetikette.

Wie bitte?

Wir hatten eine Frau in der Studie, die kauft sowohl in einer bestimmten Großfläche (wie zum Beispiel Aldi oder Lidl; Anm. d. Red.) als auch in einem bestimmten Supermarkt ein. Sie sagte: Wenn ich meinen Großeinkauf machen muss, dann ziehe ich in meiner Jogginghose mit Kapuzenpulli los, sehe zu, dass ich möglichst schnell wieder aus dem Laden raus bin und möchte im Laden nicht angesprochen werden. Dieselbe Frau hatte in ihrem von ihr geführten Einkaufsbuch auch Bons der Supermarktkette. Diese Einkäufe waren immer am Wochenende. Für diese Einkäufe hat sie sich samstagmorgens überlegt, was sie zum Einkaufen anzieht. Da geht es um Kleidung, Make-up und Statussymbole.

Das ist ja fast schon eine Persönlichkeitsanalyse zu Handelsmarken.

Ja, die Sortimente gleichen sich über alle Marken hinweg immer mehr an. Eine wettbewerbsfähige Preispolitik ist Pflicht. Die Frage ist doch: Wo liegt die Differenzierungsmöglichkeit? Lage, Preis, Qualität, Service und ein funktionierender Kassenablauf – das sind Hygienefaktoren, die müssen funktionieren. Was bietet mir die Einkaufsstätte darüberhinaus? Welchen Mehrwert hat sie für mich in meiner jeweiligen Verfassung, in der ich einkaufen möchte? Wenn wir wissen, welcher Bereich das ist, können wir unsere Konzepte daraufhin feinjustieren.

Das Verkaufsverhalten der Händler muss sich also verändern, weil sich das Einkaufsverhalten der Menschen geändert hat?

Der Rewe-Chef Alain Caparros sagt: Nicht die Bedürfnisse der Shopper haben sich geändert, sondern ihre Ansprüche. Das klingt vielleicht banal. Aber es zeigt doch, wie hoch der Handlungsbedarf ist. Auf der rationalen Ebene hat der althergebrachte Einkauf mit dem Einkaufswagen keine Chance gegen das Internet.

Es geht also darum, ein emotionales Verhältnis zum Kunden aufzubauen?

Ja. Vom Prinzip her gibt es doch keinen großen Unterschied zwischen dem mittelalterlichen Markt und dem modernen Supermarkt. Vor 500 Jahren musste der Händler es auch schaffen, dass der Kunde am nächsten Markttag in einer Woche wieder an seinen Stand kommt und nicht beim Händler nebenan die Rüben kauft. 

Und da gab es nicht einmal das Internet als Konkurrenten.

Letztendlich stehen alle Händler – sowohl stationär als auch digital – vor der gleichen Herausforderung: Wie erzeuge ich Kundenbindung und Frequenz? Wie inszeniere ich mich im stationären Handel neu, um gegen den digitalen Handel einen Gegenpol zu bilden? Wie schaffe ich eine vertrauensvolle Beziehung zum Shopper? Man muss die Konsumenten emotional ansprechen. Wenn ich nur rational shoppen will, gehe ich ins Internet. Stephan Grünewald spricht immer vom Einzelhandel als Bühne, als Theater. Menschen wollen unterhalten werden, während sie einkaufen. Ein gutes Beispiel ist Eataly. Das ist der moderne Marktplatz.


Autor: Rolf Schröter

Rolf Schröter ist Chefredakteur der W&V und interessiert sich nicht nur deshalb prinzipiell für alles Mögliche. Ganz besonders für alles, was mit Design und Auto zu tun hat. Auch, wenn er selbst gar kein Auto besitzt.